Viele Menschen kennen das Erasmus-Programm der Europäischen Union, das Studenten die Möglichkeit gibt, einen Auslandsaufenthalt an einer Universität zu absolvieren. Aber wer war eigentlich der Mann, nach dem die EU das Förderprogramm benannt hat?
Von Oliver Kmetec
Gerade erst hatten sich die letzten düsteren Nebelschwaden des Mittelalters verzogen, als Erasmus von Rotterdam um 1466/67 im neuen Zeitalter der Renaissance das Licht der Welt erblickte. Er sollte später eine der strahlenden Figuren des Humanismus, der großen Bildungsbewegung dieses Zeitalters, werden, die später von der Aufklärung fortgeführt wurde. Sein Lebensweg war vorgezeichnet, nachdem er in seinen ersten Jahren beim Gesangsmeister und Komponisten Jacob Obrecht Unterricht nahm und eine Lateinschule besuchte. Hier traf er auch den frühhumanistischen Lehrmeister Rudolf Agricola, der großen Einfluss auf sein politisches und philosophisches Gedankengut nehmen sollte.
Religion und akademische Welt – im Zwiespalt
Erasmus‘ weiterer Werdegang ist maßgeblich vom Zwiespalt zwischen akdemischer Lehre und religiösen Dogmen gekennzeichnet. So lebte der gläubige Erasmus nach seiner Schulzeit selbst einige Jahre in einem niederländischen Kloster und wurde dort sogar zum Priester geweiht. Dennoch blieb er auf Distanz zu strengen Lehren der Kirche – und Phänomenen wie religiösem Personenkult und klerikalem Machtgehabe. Sätzen wie dieser unterstreichen Erasmus‘ kritische Haltung: „Niemand ist weiter von der wahren Religion entfernt, als wer sich selbst für sehr religiös hält.“
Nach seiner Zeit im Kloster studierte der kritische Klosterbruder an der Université de Sorbonne in Paris, ehe es ihn nach England verschlug, wo er den Prinzen und späteren König Heinrich VIII. kennenlernte, der ihm mit dem höfischen Leben vertraut machte. In dieser Zeit entwickelte sich Erasmus von Rotterdam zum weltgewandten Gelehrten, der mit vielen Herrschen und Päpsten seiner Zeit Schriftverkehr unterhielt. Er wurde zunehmend bekannter und galt in den hohen europäischen Kreisen bald als „Fürst der Humanisten“.
Ein Doktor aus Turin
Nachdem er sich abwechselnd in den Niederlanden, Paris und England aufhielt, bereiste Erasmus schließlich auch Italien, wo er blieb und in Turin zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Anschließend kehrte der Weitgereiste nach England zurück, genaur: nach Cambridge. Dort stand Erasmus nun einer Pfarrei vor, lehrte Griechisch – und hielt es wieder nicht allzulange aus. Es zog ihn ins französische Burgund und nach Basel, wo er den Großteil seines restlichen Lebens verbrache und die meisten Schriften verfasste.
Sein europaweites Ansehen und seine Studien in verschiedenen Ländern brachten ihm rückwirkend den Titel ein, „einer der ersten Europäer“ gewesen zu sein. Ein Grund dafür war auch seine pazifistische Einstellung, die er in einer zutiefst kriegerischen Zeit vertrat. So hoffte Erasmus auf die Vernunft der Herrschenden, einen dauerhaften Frieden auch ohne Krieg zu erreichen, was der Ausgangspunkt für seine Schrift „Die Klage des Friedens“ war. Damit war er einer der ersten Vertreter der „europäischen Idee“, weshalb die EU auch Förderprogramm für Auslandsaufenthalte an Universitäten nach ihm benannte.
Religionsreform ja, Luther nein
Zu seiner Zeit sah Erasmus insbesondere die Gefahr von Religionskriegen und legte deshalb stets Wert auf Neutralität und Toleranz. Er lehnte sowohl den dogmatischen Anspruch der katholischen Kirche ab wie auch die lutherische Reformationsbewegung; Erasmus trat zwar für Religionsreformen ein. Luthers Methoden waren ihm aber zu radikal. Er hoffte stattdessen auf eine „innere Reform“ der katholischen Kirche – ohne eine Veränderung durch Gewalt.
Seine eigene Kritik an der Kirche formulierte er häufig mit beißendem Spott. Da die Inquisition noch nicht abgeschafft war, bediente er sich dabei des Tricks, eine fiktive Person die Kritik in seinen Schriften aussprechen zu lassen. Ein Paradebeispiel dafür ist seine Satire „Lob der Torheit“, in der er mit Stultitia die personifizierte Torheit auftreten lässt, der behauptet: „Die christliche Religion steht einer gewissen Torheit recht nahe, hingegen mit der Weisheit verträgt sie sich schlecht.“
Kritische Ausgabe des Neues Testaments
Erasmus selbst sah im ursprünglichen Christentum ein ethisch-religiöses Ideal und wollte dieses wiederherstellen. Dies führte dazu, dass er eine kritische Edition des Neuen Testaments auf Griechisch veröffentlichte, die später auch Luther für dessen deutsche Bibelübersetzung nutzte. Der Gelehrte wollte damit seinem eigenen Anspruch als Vermittler von Bildung gerecht werden, den er folgendermaßen formuliert hatte: „Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern als solche erzogen.“
Als Textkritiker und Autor, der schätzungsweise 1000 Wörter pro Tag zu Papier brachte, war er damit einer der Begründer der neuzeitlichen Philologie. So geht auch auf ihn die heute in den westlichen Ländern übliche Aussprache, insbesondere die Betonung des Altgriechischen, zurück.
Sprachvorbild für Goethe
Die „Agadia“, das umfangreichste Werk von Erasmus, vereinte schließlich seine Vorliebe für die Antike. Die kommentierte Sammlung umfasste über 4000 lateinische und griechische Zitate, Sprichworte und Weisheiten; sie galt als Vorbild für gepflegten Sprachstil. Unter anderem trug auch Johann Wolfang von Goethe das Werk später stets bei sich.
Wenige Jahre vor seinem Tod verfasste Erasmus von Rotterdam mit dem Werk „De Civilitate“ noch eines der ersten Benimmbücher Europas, das als Lehrbuch in Schulen genutzt wurde und als Basiswerk vieler nachfolgender Werke der Anstandsliteratur diente. Es unterstrich erneut seinen pädagogischen Ansatz, Bildung zu vermitteln.
Sein europaweites Ansehen ist auch in seinem letzten Lebenskapitel erkennbar: Nachdem Erasmus von Rotterdam in Basel 1536 gestorben war, wurde er als katholischer Priester und Reformationskritiker im mittlerweile protestantisch gewordenen Basler Münster beigesetzt.